Die Ukraine im „Spiegel GESCHICHTE“ zum Thema „Russland“ – ein Faktencheck.
10 Antworten der Initiative Demokratische Ukraine zu 10 Zitaten. Von Tatiana Dettmer, Vera Ammer und Diana Siebert
1. Zwischen Moskau und Berlin /// 2. Hungersnot 1930er Jahre /// 3. Ukrainische SSR als UNO-Mitglied /// 4. Krim zur Ukrainischen SSR /// 5. 1992 bis 1994 /// 6. Wen die Korruption entfremdete /// 7. Wer auf dem Maidan demonstrierte /// 8. Schossen Maidandemonstranten 2013 zuerst? /// 9. Donezk und Luhansk 2014 /// 10. Sendet Russland nur Geld und Berater nach Donezk und Luhansk? /// Fazit
Vor kurzem erschien in Deutschland die neue Ausgabe des Magazins „Spiegel GESCHICHTE“ zum Thema „Russland“. Die Ausgabe enthält einen Artikel über die Ukraine. Da stellt sich gleich die Frage, warum die Ukraine keine eigene Ausgabe bekommt, sondern unter Russland abgehandelt wird.
1. Der Artikel heißt „Zwischen Moskau und Berlin“ und stammt aus der Feder des Spiegel-Redakteurs Uwe Klußmann, der vom 1999 bis 2009 Spiegel-Korrespondent in Moskau war.1 Der Titel des Artikels ist Programm: Bereits die Wortwahl „Zwischen Moskau und Berlin“ reduziert die Ukraine, ein Land mit 48 Millionen Einwohnern, auf ein bloßes Objekt der großen Politik, einen Spielball der Großmächte, in diesem Falle – Russland und Deutschland. Als Beispiel beschreibt der Autor die kurze Periode des Ukrainischen Hetmanats, die neun Monate vom April bis Dezember 1918 dauerte und vom kaiserlichen Deutschland militärisch unterstützt wurde. Diese Passage wirkt so, als habe es 1917 keine ukrainische Nationalbewegung, 1918 keine Ukrainische Volksrepublik gegeben und die Ukraine wäre erst mit Hetman Skoropadskyj als Staat entstanden.
In dem Artikel bietet Klußmann einen Überblick über die Geschichte der Ukraine seit 1918 bis heute und porträtiert Ukrainer als ein nationalistisch gesinntes Volk mit korrupten Eliten, das unfähig ist, seinen eigenen Staat aufzubauen. Am Beispiel von einem misslungenen deutsch-ukrainischen Projekt aus der Geschichte – eben die Errichtung des Hetmanats 1918 – warnt der Autor die Deutschen implizit davor, sich in die russisch-ukrainische Angelegenheiten einzumischen, und „die Entwicklung in Kiew von Berlin aus zu lenken“.
Wir, die Initiative Demokratische Ukraine, haben im Artikel von Uwe Klußmann eine Reihe falscher Behauptungen über die Ukraine festgestellt, und möchten im folgenden Faktencheck zeigen, dass er dazu beiträgt, dass ein verzerrtes Bild der Ukraine in den deutschen Medien entsteht.
Historisch gesehen war die Ukraine tatsächlich oft ein Spielball der Großmächte, nur hatten Deutschland und die Deutschen damit wenig zu tun. Die Großmächte hießen Polen-Litauen, Russland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Die Errichtung des ukrainischen Hetmanats mit der Hilfe der Deutschen für Skoropadskyj war nur eine kurze Episode in der tausendjährigen Geschichte der Ukraine. Aus Historikersicht ist es kaum angemessen, die Ukraine als etwas „zwischen Moskau und Berlin“ zu definieren.
Für Leser ohne historische Kenntnisse wirkt der Titel ebenfalls befremdlich, besonders für Ukrainer. Auch heutzutage geht es Ukrainern nicht darum, zwischen zwei Souveränen Moskau und Berlin zu wählen, sondern viel mehr um den Aufbau des eigenen Staates nach Prinzipien, die sie als „europäische Werte“ bezeichnen: Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Humanismus. Und Deutschland geht es weniger darum, die Ukraine aus dem Orbit der russischen Satellitstaaten zu reißen, sondern vielmehr um die Einhaltung des Völkerrechts und Verhinderung eines neuen Blutbads in Europa.
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2. Zitat: „Es kam zu einer Hungersnot, der 1932/33 etwa 3,5 Millionen Menschen in der Ukraine zum Opfer fielen […] In der Publizistik und Geschichtsschreibung der heutigen Ukraine wird diese Tragödie als Genozid an der ukrainischen Nation gesehen (‚Holodomor‘). Nicht nur russische, auch amerikanische und westeuropäische Historiker bezweifeln das, wie zum Beispiel der Ukraine-Kenner Andreas Kappeler. Er sagt, dass ‚die Hypothese eines von Stalin geplanten Völkermordes bisher nicht nachgewiesen‘ sei. Die Hungersnot traf gleichzeitig auch andere sowjetische Regionen im Süden Russlands und in Kasachstan. In der Ukraine hungerten Russen ebenso wie Ukrainer. Die dortigen Nationalisten nutzten die Katastrophe propagandistisch; Stalins Regime gab ein gutes Feindbild ab“.
Kommentar: Die Hungersnot war keine Naturkatastrophe, sondern wurde künstlich erzeugt, insbesondere dadurch, dass die Sowjetmacht bei den Bauern die gesamte Ernte und das Saatgut – also die Existenzgrundlage für das kommende Jahr – requiriert hat. Das war keine „Tragödie“, dafür gab es konkrete Verantwortliche. Der Begriff „Tragödie“ ist die heute in Russland gängige und beliebte Umschreibung für politische Verfolgungen der Sowjetzeit, insbesondere den Großen Terror 1937/38. Es gibt danach keine Täter, es handelt sich um eine Tragödie, einen Schicksalsschlag, der furchtbar war, für den aber niemand verantwortlich ist.
Es kommt nicht darauf an, ob die „Nationalisten diese Katastrophe propagandistisch nutzten“ oder nicht. Die westlichen Gebiete der Ukraine wie Lemberg, Ivano-Frankivsk oder Czernowitz gehörten damals gar nicht zur Sowjetunion. Aber: Beinahe jede ukrainische Familie aus den südlichen und östlichen Gebieten des Landes2, und das sind in der Regel keine Nationalisten, hat Opfer durch den Holodomor zu beklagen. Als die Perestroika und Redefreiheit im Jahre 1986 kamen, waren noch viele Menschen am Leben, die den Holodomor durchgemacht hatten. Sie haben damals angefangen, offen darüber zu reden, worüber sie ihr ganzes Leben lang schweigen mussten – über den Holodomor. Somit erfuhren die Ukrainer vom Holodomor nicht von Nationalisten, sondern von ihren eigenen Omas und Opas.
Der Holodomor ist zu einem nationalen Trauma der Ukrainer geworden, unabhängig davon, ob man ihn als Genozid definiert oder nicht. Dazu bedurfte es keinerlei „propagandistischer“ Nutzung durch Nationalisten, wie Klußmann unterstellt. In den Jahren 1986-1991 publizierten Moskauer sowjetische Zeitschriften seitenweise Erinnerungen von Holodomor-Überlebenden und bis dahin unveröffentlichte literarische Werke zu diesem Thema. Nicht zuletzt diese Berichte haben dazu beigetragen, dass die Ukrainer im Jahre 1991, darunter auch die Einwohner von südlichen und östlichen Gebieten3, mit der Parole „Nie wieder Holodomor!“ zum Referendum gegangen sind und für die Unabhängigkeit ihres Landes gestimmt haben.
„Stalins Regime gab ein gutes Feindbild ab“, schreibt Uwe Klußmann. Warum wundert er sich über die Gegnerschaft zu Stalins Regime bei Menschen, denen das Letzte weggenommen wurde und deren Kinder zum Hungertod verdammt waren?
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3. Zitat: „In den Jahren 1945 bis 1953 deportierten die Sowjetbehörden rund 204 000 Westukrainer in entfernte Gegenden der Sowjetunion. Erst Mitte der Fünfzigerjahre endete der bewaffnete Untergrundkampf […] Wie ein Zugeständnis wirkte die Entscheidung der Sowjetunion 1945, die Ukrainische Sowjetrepublik zur Mitgründerin der Vereinten Nationen zu machen“.
Kommentar: Was der Autor nicht erwähnt, ist wie dieses „Zugeständnis“ in der Wirklichkeit aussah. Die Ukrainische und die Belarussische SSR bekamen je eine Stimme in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, de facto hatten sie keine Macht und wurden bei den Abstimmungen als Marionette von der Sowjetunion eingesetzt. „In keinem einzigen Fall führte [die eigene Stimme der Ukraine] sich von dem der UdSSR unterschiedenen Abstimmungsverfahren“, – schreibt die Historikerin Kerstin Jobst.4 Entscheidend war ja ohnehin die Stimme im UN-Sicherheitsrat.
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4. Zitat: „Nach Stalins Tod sorgte dessen Nachfolger Nikita Chruschtschow für eine weitere Überraschung. Er fügte die mehrheitlich von Russen bewohnte Halbinsel Krim in die Ukrainische Sowjetrepublik ein, ohne Referendum. Mit dem verfassungsrechtlich umstrittenen Schritt legte Chruschtschow einen politischen Sprengsatz in das ohnehin konfliktgeladene Land“.
Kommentar: Da sorgt der Russland-Kenner Uwe Klußmann selber für eine Überraschung. Was für ein Referendum hätte es im totalitären Staat UdSSR im Jahre 1954 geben können? Das erste Referendum in der Geschichte der Sowjetunion fand erst am 17. März 1991 statt – es war das Referendum für den Erhalt der Sowjetunion.
Auf der anderen Seite konnte Nikita Chruschtschow im Jahr 1954 nicht einfach die Krim „in die Ukrainische Sowjetrepublik einfügen“, wie Klußmann schreibt. Chruschtschows Macht war (noch kein Jahr nach Stalins Tod) noch nicht so gefestigt, dass er so etwas quasi im Alleingang dem Obersten Sowjet zu beschließen auftragen können.
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5. Zitat : „Im Mai 1992 beschloss das Parlament der Krim die Unabhängigkeit und eine eigene Verfassung […] In einem Referendum, das als Meinungsumfrage deklariert werden musste, hatten sich am 27. März 1994 rund 78 Prozent für eine Souveränität der Krim ausgesprochen. Am selben Tag stimmten im ostukrainischen Gebiet Donezk 80 Prozent für einen föderativen Staatsaufbau der Ukraine. Im Nachbarbezirk Luhansk votierten 90 Prozent für Russisch als zweite Amtssprache“.
Kommentar: Diese Zahlen aus dem Anfang der 90er Jahre sollen belegen, dass die Ukraine immer zwischen Osten und Westen zerrissen war, und dass die Mehrheit der Bevölkerung im Osten und Süden des Landes schon immer nach Russland tendierte.
Tatsächlich gab es in den 90er Jahren insbesondere auf der Krim starke separatistische Tendenzen, die nicht zuletzt aus Russland angestachelt wurden. Doch die Situation hat sich im Laufe der Zeit verändert. Eine Umfrage des UN Development Program aus dem Jahr 2012 zeigte, dass die Zahl der Einwohner der Halbinsel Krim, die eine Vereinigung mit Russland wünschten, zum ersten Mal seit der ukrainischen Unabhängigkeit auf 40% gesunken war5. Im gleichen Jahr bekam die Partei „Russische Einheit“ geführt von dem heutigen Krim-Präsidenten Sergej Aksjonow bei den Parlamentswahlen auf der Krim nur 4% der Wählerstimmen6.
Im April 2014, bereits nach der Krim-Annexion, als die sog. „Separatisten“ unter dem Kommando der russischen Geheimdienstler die administrativen Gebäude in Donezker und Luhansker Gebiet besetzten, als der Osten der Ukraine in Chaos des Krieges zu versinken begann, führte das Kiewer Institut für Soziologie eine Umfrage unter dem Titel „Ansichten und Meinungen der Bewohner der südöstlichen Regionen der Ukraine“ durch7. Auf die Frage „Unterstützten Sie die Idee, dass Ihre Region sich von der Ukraine abspalten und Russland anschließen sollte?“ antworteten 27,5% der Einwohner des Donezker und 30,3% der Einwohner des Luhansker Gebiet positiv. Insgesamt betrug die Zahl derer in südöstlichen Regionen der Ukraine, die einen Anschluss an Russland wollten, 15,4%. Sieht „ein tief gespaltenes Land“ wirklich so aus?
Die Umfragen der letzten Jahre in der Ukraine und auf der Krim belegen: trotz enormer Korruption der politischen Eliten, trotz Armut und sozialer Unsicherheit, trotz des Fehlens einer zusammenbindenden Identitätspolitik seitens des Staates ist das Land in den 23 Jahren seiner Unabhängigkeit zusammengewachsen.
Natürlich gab es auch Anfang 2014 Meinungs- und Wählverhaltens-Unterschiede zwischen den Westukrainern und Ostukrainern. Solche gibt es übrigens auch in Deutschland zwischen den Einwohnern der neuen und alten Bundesländer. Diese Unterschiede hätten aber nicht zu einem Krieg geführt, wenn es keine äußere Einwirkung gegeben hätte – die Aggression Russlands, das nicht nur seine Geheimdienstler und Geld , sondern auch Soldaten ohne Hoheitsabzeichen und Waffen in die Ostukraine schickte und eine beispiellose propagandistische Gehirnwäsche der Bevölkerung unternahm.
Das Letztere – die enorme Rolle der russischen Propaganda in der Anstiftung des Konflikts in der Ukraine – erwähnt Uwe Klußmann in seinem Artikel mit keinem Wort.
Es bleibt offen, ob der Autor für seinen Artikel bewusst oder unbewusst die Statistik aus der Ukraine der 90er Jahre verwendet hat. Es bleibt aber auf jeden Fall ein klassisches Beispiel dafür, wie das Image der Ukraine als „eines tief gespaltenen Landes“ und eines „ukrainischen Bürgerkriegs“ in den deutschen Medien erzeugt wird.
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6. Zitat : „Während der Regierungsapparat in Korruption versank, entfremdeten sich vor allem die russisch geprägten Regionen im Süden und Osten des Landes vom ukrainischen Staat“.
Kommentar: Die statistischen Daten belegen das Gegenteil: im Laufe der Jahre haben sich die „russisch geprägten Regionen im Süden und Osten des Landes“ vom ukrainischen Staat nicht entfremdet, sondern sind vielmehr mit ihm zusammengewachsen.
Vier aus insgesamt fünf Präsidenten der Ukraine, darunter auch der vermeintliche „Nationalist“ Viktor Juschtschenko, kommen aus dem Osten und Süden des Landes. Beinahe alle Ministerpräsidenten der Ukraine – Julia Tymoschenko, Pawlo Lazarenko, Juchym Swiagylskyj, Jewhen Martchiuk u.a. kommen aus dem Osten des Landes. Unter der Präsidentschaft von Viktor Janukowitsch (der im Artikel von Uwe Klußmann übrigens sehr schonend dargestellt wird) ist seine „Partei der Regionen“, die vor allem die Interessen des ostukrainischen Elektorats und der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine vertreten hat, übermächtig geworden.
Am 05.06.2012 wurde vom ukrainischen Parlament das Gesetz „Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik“ verabschiedet. Das Gesetz erklärte Russisch zur regionalen Amtssprache in Regionen mit mehr als 10% russischsprachiger Bevölkerung8. Damit wurde die sogenannte „Sprachenfrage“ in der Ukraine gelöst. Das Gesetz gewährt breite Autonomierechte für die russische Sprache und ist nach wie vor in Kraft.
Es wäre also eindeutig übertrieben zu sagen, dass die „russisch geprägten Regionen“ in Kiew politisch unterrepräsentiert und diskriminiert wurden. Sie waren nicht nur in der ukrainischen Politik vertreten, sondern haben die ukrainische Politik der letzten 23 Jahre mit all ihren Höhen und Tiefen aktiv mitgestaltet. Und es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der ukrainischen Oligarchen ebenfalls aus dem Osten der Ukraine kommt.
6. Nationalismus und Nationalisten . Dem ukrainischen Nationalismus widmet Uwe Klußmann gleich mehrere Passagen seines Artikels. Insbesondere die Zeit des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine wird durch die Prisma des Nationalismus dargestellt: der Autor beschreibt ausschließlich die Ereignisse im Westen der Ukraine, wo die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und zeitweilig auch ihr Führer Stepan Bandera tätig waren. Detailliert beschreibt der Autor die Kollaboration der ukrainischen Nationalisten mit der deutschen Wehrmacht, die Massaker gegen polnische und jüdische Zivilisten.
Kommentar: er erwähnt aber mit keinem Wort, was zur gleichen Zeit auf den anderen Territorien der Ukraine geschah. Und so blendet er völlig aus, dass ca. 6 Millionen Ukrainer an der Seite der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland gekämpft und einen wichtigen Beitrag zum Sieg geleistet haben. Beim unvorbereiteten Leser entsteht der Eindruck, alle Ukrainer seien Nazi-Kollaborateure, während (die Guten) – die Russen, allein den Nationalsozialismus besiegt hätten.
Die Passagen über die Glorifizierung von Stepan Bandera und das Bild einer Dame mit Banderas Portrait und der Unterschrift „Ukrainische Nationalisten zeigten während der Maidan-Proteste in Kiew Bilder des zeitweiligen Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera“ sollen die Leser in der Meinung bestärken, die Ukrainer seien immer noch Nationalisten, deren Ideologie mehr Gemeinsamkeiten mit dem Nationalsozialismus als mit den universellen Menschenrechten habe. Dieses Bild der Ukrainer wird derzeit tatächlich massiv in den russischen Medien propagiert.
Dem ist aber nicht so. Während die Glorifizierung von Stepan Bandera und OUN in der Tat sehr bedenklich ist und auf berechtigte Kritik stößt, ist es sicherlich übertrieben, die Ukraine als einen nationalistischen Staat zu bezeichnen. Trotz nationalistischer Tendenzen zeigen alle Umfragen, dass nur ca. 6-8% der Bevölkerung die Nationalisten unterstützen. Diese Zahlen bestätigen auch die Ergebnisse der Parlamentswahlen von 2014, wo keine der nationalistischen Parteien die 4%-Hürde überwunden hat.9 Auch die zahlreichen internationalen Organisationen, deren Missionen ihren Sitz in der Ukraine haben, stellen keine nationalistische Gefahr fest, und nur 5,5% der Ukrainer haben Angst vor zunehmendem Nationalismus.10 –
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7. Zitat: „Auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, demonstrierten vor allem Menschen aus dem Westteil und dem Zentrum der Ukraine“
Kommentar: Diese Behauptung blendet völlig die ostukrainischen und russischen Teilnehmer auf dem Maidan aus, besonders diejenigen, die ihr Leben am Maidan verloren haben.
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8. Zitat: „Sie [die nationalistischen Gruppen wie der „Rechte Sektor“] schossen auf Polizisten, bevor zahlreiche Demonstranten von Sicherheitskräften getötet wurden“
Kommentar: Bei aller Kritik, die wir, die Initiative Demokratische Ukraine, am Rechten Sektor als nationalistischer Organisation natürlich haben, wäre es wiederum interessant zu wissen, worauf sich die Behauptung Herrn Klußmanns, der Rechte Sektor habe als erster auf dem Maidan geschossen, stützt. Diese Behauptung ist uns bereits einige Male vorgekommen, meistens aus den Kreisen der Putin-Apologeten. Beweise dafür gibt es, unseres Wissens nicht.
Das erste Opfer des Maidan – Sergij Nigojan – wurde unter ungeklärten Umständen am 22. Januar 2014 auf dem Maidan erschossen. Man hat seine Mörder, sowie die Mörder von einigen anderen Maidan-Aktivisten bis heute nicht gefunden. Das bedeutet aber nicht, dass man diese Morde ohne entsprechende Beweise dem Rechten Sektor zuschreiben darf.
Was Uwe Klußmann in seinem Artikel ebenfalls völlig ausblendet, ist, was seit dem Anfang der Proteste auf dem Maidan bis zu seiner Radikalisierung im Februar 2014 passierte – die von den Sicherheitskräften brutal geschlagenen friedlichen Proteste, die Verabschiedung der Diktaturgesetze durch die Regierung Janukowitschs11, die Entführungen12, Morde und Folter an Maidan-Aktivisten.
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9. Zitat: „Die ukrainische Regierung begann gegen die von Russland unterstützten bewaffneten Aufständischen eine militärische „antiterroristische Operation“. Dabei setzte sie ab Anfang Mai 2014 auch massiv Artillerie ein. An der Seite der Regierungstruppen kämpften nationalistische Freiwilligenbataillone. Die Angst vor den ‚Banderowzy‘, wie die Bandera-Verehrer im Osten genannt wurden, mobilisierte in den ‚Volksrepubliken‘ jetzt Hunderttausende, die in international nicht anerkannten Referenden für ihre Eigenständigkeit votierten“.
Kommentar: Dem ist nicht so. Die Angst von den „Banderowzy“, oder den Bandera-Verehrern, entstand im Osten der Ukraine lange, bevor die ukrainische Regierung ihre Artillerie eingesetzt hatte. Diese Angst war das Ergebnis einer präzedenzlosen Propaganda-Kampagne in den russischen Massenmedien, die auch im Osten der Ukraine aktiv betrieben wurde und die spätestens Anfang Januar 2014 losging.
Vermeintliche Augenzeugen erzählten im russischen Fernsehen erfundene Geschichten über die bösen Bandera-Ukrainer, die russischsprachige Kinder kreuzigten. Die extra dafür eingestellten Statisten spielten angebliche Flüchtlinge aus Odessa und anderen Regionen der Ukraine, denen die Banderowzy das letzte Hab und Gut weggenommen hätten. Mehrere Einwohner der östlichen Regionen der Ukraine haben diesen Lügen geglaubt und fingen an, sich zunehmend Moskau zuzuwenden.
Bereits im April 2014 angesichts des sich anbahnenden Chaos im Osten der Ukraine und der beunruhigenden Berichte der russischen Medien hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte UNHCR seine Mission in die Ostukraine entsandt. Die Emissäre stellten fest, dass es „keine systematischen Repressionen oder Übergriffe gegen die ethnische russische Bevölkerung im Osten der Ukraine gibt, wohl aber einzelne Angriffe. Russland habe die Berichte darüber aufgebauscht, um ein Klima der Angst und Unsicherheit zu erzeugen“ 13.
Die präzedenzlose Moskauer Lügen-Kampagne, die ihr Ziel nicht verfehlt und Ängste unter den Einwohnern der Ostukraine geschürt hat, findet im Artikel von Uwe Klußmann keinerlei Erwähnung.
Ein anderer wichtiger Faktor, der in dem Artikel verschwiegen wird, waren wirtschaftliche Überlegungen der Donbass-Einwohner: Etliche von ihnen hegten Hoffnungen auf die russischen Renten, die wesentlich höher als die ukrainischen sind. Dank der hohen Ölpreise im letzten Jahrzehnt ist der Lebensstandard in Russland höher als in der Ukraine. Die Einwohner des Donbass sahen nach der Annexion der Krim plötzlich eine Perspektive, am russischen Wohlstand teilhaben zu können, und setzten ihre Hoffnungen auf Russland.
Bedenkt man diese beiden Faktoren – die künstlich erzeugte Angst vor den mythischen Banderowzy und das Versprechen einer guten russischen Rente – so wird verständlicher, warum Hunderttausende auf dem Donbass auf den sogenannten Referenden für ihre Eigenständigkeit votierten.
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10. Zitat: „Nach einem ab September 2014 im weißrussischen Minsk geschlossenen und sehr brüchigen Waffenstillstand verfestigen sich die beiden ‚Volksrepubliken‘ im Donbass als De-facto Staaten. Sie werden von Russland massiv mit Geld und Beratern unterstützt. Im Bürgerkrieg in der Ostukraine sind bis Herbst 2016 etwa 10 000 Menschen umgekommen.“
Kommentar: Nicht nur mit Geld und Beratern werden die „Volksrepubliken“ unterstützt, sondern auch mit Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, Waffen und Panzern, wofür es zahlreiche Belege gibt. In dieser Hinsicht ist es unangemessen, von einem „Bürgerkrieg“ in der Ukraine zu sprechen und die Aggression Russlands zu verschweigen. Ohne diese Aggression wäre es zu keinem Krieg im Osten der Ukraine gekommen; das weitere Vorgehen Russlands wird in diesem Konflikt eine entscheidende Rolle spielen.
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FAZIT: Mangelnde Kenntnisse der ukrainischen und sowjetischen Geschichte und eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit der jetzigen Situation in der Ukraine („Bürgerkrieg“) treffen hier auf eine bestimmte Intention – der Autor blendet fast völlig die Aggression Russlands aus, und stellt den Krieg im Osten des Landes als ein Konflikt zwischen pro- und antirussischen Identitäten der Ukrainer dar. Er selektiert historische Fakten und Statistiken, um seine Sicht der Dinge zu untermauern: nämlich, dass die Ukrainer Nationalisten mit korrupten politischen Eliten seien, unfähig, ihren eigenen Staat aufzubauen.
Während die Kritik an der Korruption und dem ansteigenden Nationalismus in der Ukraine berechtigt ist, darf das komplizierte, vielfältige Bild der ukrainischen Geschichte und Gegenwart nicht auf diese beiden Erscheinungen reduziert werden. Sonst entstehen verzerrte, realitätsferne Bilder von der Ukraine, und ihre Einwohner werden sämtlich als Nationalisten dämonisiert.
In Deutschland gibt es eine Reihe hervorragender Historiker und Ukraine-Kenner. Umso bedauerlicher ist es, dass man den Auftrag für einen Artikel über die ukrainische Geschichte und Gegenwart jemandem erteilt hat, der eine Reihe wichtiger Fakten, wie die Aggression Russlands im Osten der Ukraine, einfach nicht zur Kenntnis nimmt.
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18.12.2016
Quellen
1 Quelle: https://www.randomhouse.de/Autor/Uwe-Klussmann/p433947.rhd
2 Der Holodomor traf Osten und Süden der Ukraine besonders schwer.
5 http://censor.net.ua/news/217572/priverjentsev_prisoedineniya_kryma_k_rossii_vpervye_stalo_menshe_poloviny_naseleniya_opros
7 Quelle: http://kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=302&page=1
8 Quelle: http://zakon2.rada.gov.ua/laws/show/5029-17
9 Quelle: http://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/trump-brexit-and-the-myth-of-ukrainian-nationalism
10 Quelle: http://icps.com.ua/assets/uploads/files/national_dialogue/poll_for_regions/00_survey_ukraine_ua.pdf
11 http://memorial-de.blogspot.de/2014/01/im-handstreich-repressives.html
13 Quelle: http://www.ohchr.org/en/countries/ENACARegion/Pages/UAIndex.aspx